Für Adam Tooze leben viele westliche Meinungsführer, Politiker, aber auch Anleger noch in einer Scheinwelt. Diesen Eindruck musste man erhalten, wer dem Vortrag des deutsch-britischen Historikers und Universitätsprofessors am Mittwoch am Institutional Money Kongress in Frankfurt zuhörte. Laut Tooze, der an der Columbia University in New York lehrt, gibt es auf der Welt eine Gemengelage von Konflikten und Kriegen, deren gefährlichkeit nicht genügend erkannt wird.

Am weitaus bedrohlichsten ist laut Tooze ein möglicher bewaffneter Konflikt zwischen China und den USA in der Taiwan-Frage, also eine Invasion oder eine versuchte Invasion Chinas in den Inselstaat, der von China als eigenes Territorium beansprucht wird. “Ein Taiwan-Konflikt wäre ein absolutes Desaster in unbestimmbarer Grösse”, gab sich Tooze in Frankfurt besorgt.

Es sei erschütternd gewesen, wie sich die Stimmung zwischen den USA und China vor allem zwischen August 2022 und März 2023 verschlechtert habe. In diese Zeit, nämlich im Januar 2023, fiel auch die laut Tooze “geleakte” Mitteilung von Michael Minihan, General der US Air Force, der intern gesagt haben soll:  “Mein Bauchgefühl sagt mir, dass wir im Jahr 2025 kämpfen werden.”

Das Pentagon musste daraufhin beschwichtigen, solche Kommentare seien nicht repräsentativ für die Sicht des Ministeriums auf China. Dennoch warnte Historiker Tooze seine Zuhörerinnen und Zuhörer in Frankfurt:  “Ich lege ihnen nahe, solche Schlagzeilen ernst zu nehmen”.

In der westlichen Welt ist laut Tooze, dessen Buch "Crashed" zur europäischen Schuldenkrise ist ein Standardwerk geworden ist, einerseits eine gewisse Nonchalance und Ungläubigkeit über die geo- und wirtschaftspolitischen Veränderungen der letzten rund 30 Jahre festzustellen. “Wir stellen uns nun so auf, als wären wir aus heiterem Himmel gefallen”, sagte Tooze. Angesichts der Bedrohungen wünschten sich viele Leute im Westen auch die 1990er Jahre zurück.

Damals sei die USA herausragend gewesen, die Nato war für 80 Prozent der globalen Rüstungsausgaben verantwortlich. Und die Europäer konnten noch frohlocken, dass sie von allen Seiten von *Freunden” umgeben worden seien, sagte Tooze. Der japanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama verkündete angesichts des Falles der Berliner Mauer in einem Essay gar das “Ende der Geschichte”.

Bestehende Konflikte werden unterschätzt

Diese Zeiten wieder herbeizusehnen ist laut Toote völlig unrealistisch. Die geoökonomischen und geopolitischen Entwicklungen seien in der Zwischenzeit vorangeschritten. Kein Land sei weltweit jemals so schnell gewachsen wie China seit dem Jahr 2000, rechnete Tooze vor.

Das gewachsene Selbstbewusstsein und die gestiegene ökonomische Macht der Länder zeige sich auch darin, dass sich etwa Staatsführer aus dem Mittleren Osten öffentlich mit Leuten wie Wladimir Putin träfen. “Sie können es sich leisten”, so Tooze. In Singapur, wo sich der Uniprofessor kürzlich aufhielt, freue man sich unverhohlen über die Probleme des Westens.

Als Folge der westlichen Sorglosigkeit werden auch bestehende Konflikte unterschätzt. Der Krieg in Nahost wird, so Historiker Tooze, zwar vielfach als humanitäre Katastrophe wahrgenommen. Aber solange der Ölpreis dadurch nicht deutlich nach oben schnelle, lasse man sich nicht aus der Ruhe bringen.

Diese Einstellung ist laut Tooze gefährlich und ignoriert das mögliche Eskalationspotenzial im Nahen und Mittleren Osten. Anderes Beispiel: Der durch den Ukraine-Preis ausgelöste Energiepreis-Schock wird nach Einschätzung von Tooze und anders als von vielen Ökonomen angenommen anhaltende Auswirkungen auf die europäische Wirtschaft haben.

Ist Tooze ein Panikmacher? Übertreibt er? Oder hat er mit seinen Warnungen recht? Die Zukunft wird es zeigen. Erfolg versprechende Lösungen gerade für die Spannungen zwischen den USA und China hat er keine. Er hofft auf auf die Wirkung der Gespräche, die in diesem Jahr zwischen den Regierungen wieder aufgenommen wurden.

“Es ist kurzfristiges Krisenmanagement, aber es ist besser als nichts”, sagt Tooze. Und präsentiert am Schluss ein Folie mit der Schlagzeilen einer Website, die den Status Quo am besten umschreibt: “The US-China relationship in 2024 is stabilized but precaroius”.

Daniel Hügli
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